1.1.4 BREXIT

Großbritannien wird wohl die EU verlassen – warum und wohin?

Die Darstellung von Ondarza (2016) „Die verlorene Wette – Entstehung und Verlauf des britischen EU-Referendums“ sowie weitere Artikel des Heftes APuZ 49/50 (2016) sind für einen Einstieg empfohlen.

Weitere Quellen zum BREXIT finden Sie hier.

Noch nie eine gute Beziehung – populistisch ausgenutzt

Die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich (UK) und den Ländern auf dem europäischen Kontinent waren schon immer „speziell“, wie z.B. der Kopf der Gruppe „Economists for BREXIT„, Minford u.a. (2015) oder Geddes (2013) beschreiben.

Schon in seiner berühmten Rede im Jahr 1946 in Zürich hat der damalige Premier W. Churchill zwar für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ plädiert, aber sein Land nicht als Teil davon gesehen – es gehörte für ihn nicht zum „continent“. Auf die Gründung der Europäischen Gemeinschaften (1957) reagierte das Vereinigte Königreich 1960 mit der Gründung einer eigenen Gruppe, der „Europäische Freihandelszone“ (EFTA) mit Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal und Schweden. Als deutlich wurde, dass die meisten Staaten Europas die EWG attraktiver fanden, stellten UK, Irland, Dänemark und Norwegen kurz darauf einen Beitrittsantrag zur EWG; dieser bleibt jedoch vorerst erfolglos, da sich Frankreich bis 1973 einer Aufnahme Großbritanniens widersetzte (Loth, W. 2014:, Clemens, G. 2017).

Im Verlauf seiner Mitgliedschaft bekam UK immer wieder eine Sonderstellung. So musste es z.B. für längere Zeit die Europäische Sozialpolitik nicht übernehmen und durfte sich aus dem Euro fernhalten. Alle politischen Tendenz zu „einer immer engeren Union“, d.h. zu einer Vergemeinschaftung von Macht und Ressourcen in „Brüssel“ stießen auf Widerstand. UK zog einen Staatenverbund mit freien Märkten vor.

Die Massenmedien in UK pflegten eine intensive und nicht immer wahrheitsgetreue Kritik an der EU, die in der Öffentlichkeit zu einem populären Feindbild mutierte. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1990) der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer ab 2004 die volle Freizügigkeit von Arbeitskräften mit sich brachte, erlebte UK einen Zustrom von Arbeitskräften. Jenseits der unter Ökonomen diskutierten frage, ob dies für das Land zu insgesamt positiven wirtschaftlichen Effekten geführt habe, bildete sich in der öffentlichen Diskussion ein erheblicher Widerstand gegen die Zuwanderung – zumeist aus Polen und Rumänien – heraus. Dabei wurde die Konkurrenz um billigen Wohnraum sowie um Sozial- und Gesundheitsdienste herausgehoben. Auch der (vermeintliche) Druck auf die Löhne für einfache Arbeiten führte zur Abwehr der Migration besonders durch sozial Schwächere.

Jenseits der ökonomischen Analysen wurden politische Machtkämpfe unter einfachen Slogans ausgetragen; eine neue Partei (UKIP) entstand, die sich für den Austritt aus der EU stark macht(e). Auch innerhalb der Regierungspartei wurden Flügelkämpfe mithilfe des Themas ausgetragen.

Die politischen Forderungen waren u.a.

  • „Wir wollen unser Land zurück“, d.h. die europäische Gesetzgebung sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sollten nicht mehr akzeptiert werden.
  • „Wir wollen nicht mehr so viel für andere zahlen“. Der Netto-Beitrag UKs zum EU-Haushalt wurde als sehr groß dargestellt und sein Nutzen infrage gestellt. Es wurde versprochen, die Mittel an Zielgruppen in UK zu verteilen.
  • Wir wollen Kontrolle über unsere Grenzen zurück“. Das Recht zur Freizügigkeit wurde abgelehnt, da die Zuwanderung von Arbeitskräften aus der EU nicht mehr kontrolliert werden durfte.

Der Regierungschef Cameron versuchte seine politischen Gegner dadurch zu neutralisieren, indem er ein Referendum „in or out“ versprach.

Der letzte Versuch: Cameron verhandelt mit der EU

Schon im Jahr 2013 spitzte sich die Diskussion um den Verbleib Großbritanniens in der EU zu (link)

Die Kritiker der EU in UK behaupteten u.a.,

  • es seine schon zu viele und die falschen Kompetenzen „an Brüssel“ abgegeben worden
  • die Wirtschaftsmigranten würden in großem Umfang Sozialleistungen in UK in Anspruch nehmen. Dies könne ihnen nicht verwehrt werden, da sie nach europäischem Recht mit den Einheimischen gleichgestellt werden müssten.

Verteilung der Kompetenzen zwischen UK und EU ist in Ordnung

Die tatsächliche Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Nationalstaat und der EU wurde in UK untersucht. Im Review of Competencies – Abschlussbericht werden zwar einige Reformen und Veränderungen vorgeschlagen, aber keine grundlegende Schieflage in der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen UK und EU festgestellt. Ein Netzwerk unabhängiger Forschungseinrichtungen (EPIN) sieht in einem dreiteiligen Bericht ebenfalls keinen Anlass zu einer grundlegenden Kritik (EPIN Teil 1) (EPIN Teil 2) (EPIN Teil 3).

Sozialleistungen für EU-Ausländer: Gleichbehandlung als Problem?

Für Menschen in Not halten die meisten Staaten eine gewisse Unterstützung bereit. Der Umfang und die Organisation dieser Sozialleistungen hängen – unterschiedlich je nach Land – davon ab

  • wie die Verteilung der Verantwortung zwischen Individuum und Gesellschaft gesehen wird.
  • wie sich die sozialen Sicherungssysteme historisch entwickelt haben, da diese Systeme nur schwer grundlegend umgebaut werden können.

Die Sozialleistungen können auf zwei unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen:

  1. Als Versicherungsleistung wird Unterstützung an diejenigen gezahlt, die vorher in einem festgelegten Umfang in die Sozialkassen eingezahlt haben (Beiträge zur Sozialversicherung). Die Finanzierung der Sozialleistungen erfolgt also (überwiegend) aus den Versicherungsbeiträgen.
  2. Wegen der nachgewiesenen Bedürftigkeit werden Sozialleistung gewährt – auch wenn vorher keine Beiträge oder Steuerzahlungen geleistet wurden. Die Finanzierung erfolgt dabei aus dem allgemeinen Steueraufkommen. In UK werden viele Sozialleistungen nach dem Prinzip der Bedürftigkeit  gewährt.

In der EU gilt, dass EU-Ausländer beim Empfang von Sozialleistungen nicht gegenüber Einheimischen benachteiligt werden dürfen. Es wurde den EU-ausländischen Arbeitskräften vorgeworfen, dies unfair auszunutzen. Es wurde behauptet, dass sie Arbeit zu geringen Löhnen annehmen um dann das nicht zum Leben ausreichende Arbeitseinkommen durch Sozialleistungen „aufstocken“, für die sie vorher keine Beiträge oder Steuern gezahlt haben. Ausserdem nähmen sie so den Einheimischen die Arbeitsplätze weg, da diese nicht zu solch schlechten Konditionen arbeiten könnten. Ausserdem sollen sie die Konkurrenz um den knappen subventionierten Wohnraum und die Leistungen des (kostenfreien) Gesundheitswesens verschärfen.

Zahlreiche Studien haben versucht, die jeweiligen Sachverhalte aufzuklären und zu gewichten. Zusammenfassend ergab sich, dass die EU-Arbeitsmigranten

  • ganz überwiegend von ihrer Arbeit leben, keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen aber Steuern zahlen.
  • Arbeitsplätze ausfüllen, für die sich auch bei hoher Arbeitslosigkeit keine einheimischen finden lassen.
  • über 10% der qualifizierten Arbeitskräfte im Gesundheitswesen stellen, ohne die die Engpässe in der Versorgung deutlich größer wären.

Bezahlbarer Wohnraum ist und bleibt jedoch eine knappe und umkämpfte Ressource. Die Abhilfe hierfür liegt nach Auffassung der Zeitschrift „The Economist“ jedoch in den Händen der Gemeinden, die nicht genug neues Bauland ausweisen – auch weil die Alt-Eingesessenen eine weitere Verdichtung ihres Wohnumfelds durch weitere Bebauung ablehnen.

Der Regierungschef Cameron hatte sich vorgenommen, mit den anderen EU-Mitgliedern über eine Veränderung der EU-Regularien zu verhandeln, um so in seinem Land Massnahmen gegen EU-Arbeitskräfte ergreifen zu können, die bisher nicht mit EU-Recht vereinbar waren. So wollte er seine Wähler davon überzeugen, dass die Mitgliedschaft in einer reformierten EU für sie positiv sei.

Die als „Rosinen-Picken“ bezeichneten Verhandlungsziele konnte er jedoch im Kreis seiner 27 EU-Kollegen nicht erreichen und scheiterte daher in den Augen der Öffentlichkeit in UK mit seinem Vorstoß.

Das Referendum für den Ausstieg

Da der Streit um die Position UKs gegenüber der EU innerhalb der Parteien oder des Parlaments nicht geklärt werden konnte, wollte Cameron die Frage dem Volk zur Entscheidung vorlegen: Ein Referendum „Bleiben oder gehen?“ wurde angesetzt. Er erwartete möglicherweise durch ein Pro-EU-Votum seine inner-parteilichen Kritiker („Hinterbänkler“) sowie die Anhänger der Anti-EU-Partei UKIP (United Kingdom Independent Party) besiegen zu können. Für den Ausstieg aus der EU wäre es angemessen gewesen, eine Mindestgröße bei der Wahlbeteiligung sowie eine qualifizierte Mehrheit zu verlangt. Stattdessen wurde lediglich eine einfache Mehrheit („50% plus eine Stimme“) als Hürde gesetzt.

Nach einem politischen Diskurs in Parteien und Medien, der von Fehlinformationen, falschen Behauptungen und unerfüllbaren Versprechungen geprägt war, gewannen die EU-Gegner mit einer knappen Mehrheit von 53% der abgegebenen Stimmen. Formal ist das Ergebnis nicht bindend, aber die Regierung versprach seine Umsetzung. Auch die beiden Häuser des Parlaments respektierten den Willen der Abstimmenden.

Die EU verlassen – wie geht das?

Der Prozess des Ausstiegs aus der EU ist im Vertrag von Lissabon (2009) in Artikel 50 festgelegt:

  1. Der austrittswillige Mitgliedsstaat erklärt den Austrittswunsch
  2. Danach haben die beiden Seiten (EU und Austrittskandidat) zwei Jahre Zeit, um einen Vertrag zur Neuregelung der Beziehungen zu schießen. Dieser Vertrag muss von einer qualifizierten Mehrheit der EU-Mitglieder gebilligt und ratifiziert werden. Dies schließt in einigen Ländern neben der Zustimmung des Parlaments auch ein Referendum ein.
  3. Die Frist von zwei Jahren kann verlängert werden – aber nur einstimmig.

Wird innerhalb der zwei Jahre kein Vertrag geschlossen und ratifiziert, so endet die EU-Mitgliedschaft und die Beziehung zwischen EU und UK ist nur noch über internationale Vereinbarungen gestaltet, die beide Gruppen unterschrieben haben. Für die wirtschaftlichen Beziehungen sind die Verträge der WTO (Welthandelsorganisation) die wichtigste Grundlage. Der Marktzugang nach WTO-Regeln ist weniger einfach, als er durch die EU-Verträge war. Besonders die für UK so wichtigen Finanzdienstleistungen sind in der WTO nicht geregelt.

Welche wirtschaftlichen Folgen eines Austritts werden vermutet?

Schon bei einem Beitritt zur EU ist es schwierig, die wirtschaftlichen Folgen zu ermitteln (Kapitel 2.2.3). Für den Austritt eines Landes gibt es keine Erfahrungen. Auch hängen die Folgen davon ab, wie das Verhältnis zwischen dem Ex-Mitglied und der EU künftig gestaltet wird. Dafür könnten z.B. die Schweiz, Norwegen oder die Türkei als Modell dienen. Aber auch die WTO könnte der Rahmen sein, der künftig für die wirtschaftlichen Beziehungen gilt. Nicht ausgeschlossen ist auch ein „maßgeschneiderter“ Vertrag.

Die politische Diskussion wird – wie schon bei der Ost-Erweiterung, der Einführung des Euro oder der Globalisierung – von polaren Positionen beherrscht: Die Einen behaupten große Wohltaten für Alle, während die Anderen den Untergang am Horizont sehen. Meist liegen die realen Entwicklungen in der Mitte. Allerdings sind die Wirkungen nicht gleichmäßig verteilt: Es gibt Regionen, Branchen, Berufsgruppen, Qualifikationsniveaus etc., die profitieren, während gleichzeitig andere zu den Verlierern gehören.

Studien vor der Abstimmung (LSE, House of Lords, etc.) weisen auf wirtschaftliche Schäden aus der Beschränkung des Handels hin. Besondere Bedeutung hat die Finanzindustrie, die für UK wirtschaftlich so wichtig ist wie es die Autoindustrie für Deutschland ist. Nach einem Austritt aus dem Binnenmarkt würde der Zugang der Finanzindustrie Londons zum Kontinent schwieriger und teurer.

– wird fortgesetzt –

Ausländische Arbeitskräfte in UK – werden sie fehlen?

Viele Arbeitskräfte im Gesundheitwesen NHS kommen aus dem EU-Ausland. Sollten sie nicht mehr in UK arbeiten dürfen oder wollen, so kann es besonders bei Spezialisten zu Engpässen kommen (POLITICO, Jan 2017). Bis genügend Einheimische entsprechend ausgebildet sind, können viele Jahre vergehen.

Für beschwerliche und schlecht bezahlte Arbeit, wie die Ernte von Gemüse, dürften nicht genug Einheimische zu finden sein, die die EU-Ausländer (Ost-Europa) ersetzen. Erfahrungen aus den USA in den frühen 1960er Jahren zeigen, dass die entsprechenden Industrien schrumpfen, so dass die Güterversorgung schlechter und teurer wird: Unter Kennedy wurden Latinos des Landes verwiesen – so wie es Präsident Trump auch vorhat (Kicking out immigrants doesn’t raise wages, ECONOMIST, Feb 2017).

Die Vertreter verschiedenener britischer Branchen warnten (April 2017) vor einem Mangel an Arbeitskräften, wenn die (Ost-) Europäer nicht mehr wie bisher in UK arbeiten dürfen und weisen ebenfalls darauf hin, dass höhere Löhne erforderlich wären sowie ein Jahrzehnt für die Ausbildung von Einheimischen gebraucht würde (The Telegraph: „British workers for British jobs is a ‚fallacy'“).

BREXIT – was passiert mit Irland?

Ein umfassender Bericht zu zahlreichen Aspekten wurde vom House f Lords Ende 2016 veröffentlicht (House of Lords – The European Union Committee. 2016. Brexit: UK-Irish relations, London). Weitere Quellen hier.

Auf der irischen Insel befinden sich zwei EU-Mitgliedsstaaten: Die Republik Irland, die Mitglied der EU bleiben will, und Nord-Irland, das Teil Großbritanniens ist. Irland ist mit Großbritannien eng – fast untrennbar – verflochten. Seitdem im „Good Friday Aggreement“ (link) (link) Frieden in Nordirland erreicht wurde, spielt die Grenze zwischen den beiden Teilen kaum noch eine Rolle und der wirtschaftliche Austausch läuft ungehindert nach den Regeln des EU-Binnenmarktes. Großbritannien ist für Irland der wichtigste Absatzmarkt für Güter und Dienstleistungen und viele Iren arbeiten in UK.

Nach einem BREXIT verläuft quer durch die Insel Irland eine Grenze zwischend der EU und einem Drittland. Sie muss im Zweifel „hart“ sein, d.h. Personen und Waren müsen kontrolliert werden. Sollte UK den Binnenmarkt und die Zoll-Union verlassen, dann müssen Zölle erhoben werden und die Einhaltung von Produkt-Standards überprüft werden. Dies wäre für den Handel ein erhebliches Hindernis. Bei Agrarprodukten wie Milch würden heutige Bauerhöfe und Molkereien in zwei Teile zerissen und Milchprodukte aus Nord-Irland mit einem Zoll von 40% belegt werden müssen (link).