4. (Ost-) Erweiterung

Überblick

Die EU hat seit ihrer Gründung viele neue Mitglieder aufgenommen. Im Folgenden wird erörtert, warum die Mitgliedschaft für die Kandidaten so attraktiv scheint und ob die EU unbegrenzt erweiterungsfähig ist. Mittlerweile hat sich die EU Regeln für die Aufnahme neuer Mitglieder gegeben, die erhebliche Konsequenzen für die Kandidaten haben. Mit dem Zusammenbruch des „Ost-Blocks“ kam eine einmalig große Zahl neuer Mitglieder dazu, die als Transformationsländer in einer besonderen Ausgangslage waren. Wie sich die Kandidatenländer und die EU im Laufe dieser Integration der Märkte und durch die Mitgliedschaft entwickelt haben, wird anhand des Agrarsektors, des Handels, der Direktinvestitionen, der Dienstleistungen und der Arbeitskräftewanderungen dargestellt. Auch der Streit um die Finanzen hat die Erweiterung begleitet. Zwei „Nachzügler“ (Bulgarien, Rumänien) haben das Bewusstsein für die kritischen Aspekte neuer Mitgliedschaften wachsen lassen. Nach 10 Jahren (2014) ist ein positiver, wenn auch gemischter, Rückblick möglich.

… kurz zusammengefasst ∑

Der Aufnahmewunsch der mittel- und osteuropäischen Länder, die dem zusammengebrochenen „Ost-Block“ angehört hatten, kam für die EU-Länder als Überraschung zur Unzeit: Die EU war mit der Einführung des Euro beschäftigt. Auch aus geo-strategischem Interesse gegenüber Russland wurde die Einbindung dieser Länder in die EU sowie ind die NATO vorangetrieben. Damit wurden „Transformationsländer“ aufgenommen, die ihren Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft bewältigen wollten und mussten. Für die bisherigen EU-Mitglieder ergaben sich sowohl neue Konkurrenten als auch neue Märkte und Produktionsstandorte. Besonders die „Flut“ armer Arbeitsmigranten wurde gefürchtet: Erst nach langen Übergangsfristen (sieben Jahre) wurde in den meisten „alten“ Mitgliedsländern die volle Freizügigkeit für die „Neuen“ eingeführt.

Die „Rückkehr nach Europa“ hat sich die meisten der acht Länder als erfolgreiche Unterstützung ihrer Transformation erwiesen.

25 Jahre Transformation

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich die Staaten des „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) politisch und wirtschaftlich neu orientiert. Welchen Stand sie erreicht haben, wird in einer Reihe von Studien untersucht:

Freizügigkeit für die neuen Mitglieder – nicht ohne Probleme

Mit der Herstellung der vollen Freizügigkeit treten Spannungen auf: Ärmere Menschen aus Ost-Europa kommen in die wohlhabenderen Länder, um dort ein bessres Leben aufzubauen. Dabei wird auch der Vorwurf des „Sozial-Tourismus“ erhoben. Die rechtlichen Ansprüche auf Zugang zu Sozialleistungen werden überprüft und weiterentwickelt. Weiterhin hat die Abwanderung von Arbeitskräften auch negative Folgen für die Herkunftsländer: Die – meist qualifizierten und jungen – Arbeitskräfte fehlen und die Versorgung der Bevölkerung im Gesundheitswesen kann akut gefährdet werden.

  • Findet entgegen den Regelungen im EU-Vertrag eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ statt, z.B. aus armen Ländern wie Bulgarien und Rumänien? (Link)
  • In Großbritannien wird die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft häufig mit dem unerwünscht großen Zustrom von Arbeitskräften aus den EU-Mitgliedsländern begründet; außerdem bestehen Aversionen gegen den Bezug von staatlichen Leistungen durch EU-Ausländer (BREXIT).
  • Mit der Mitgliedschaft sind die hochquzalifizierten Wissenschaftler aus Ost-Europa in die „reichen“ Länder des Westens ausgewandert (Brain-Drain). Dies hat zu einem einschneidenden Verlust an Akademikern geführt, was es den neuen Mitgliedsstaaten auch schwer macht, an Forschungskooperationen in der EU teilzunehmen (Quantifying the negative impact of brain drain on the integration of European science) (Zusammenfassung in Deutsch).
  • In Mittel- und Ost-Europa wird ein erheblicher Brain–Drain bei Ärzten und anderen Gesundheitsberufen beklagt. Damit bilden die armen Länder für das Gesundheitssystem der reichen Länder aus. Dies hat weiterhin bereits zu Engpässen in der Gesundheitsversorgung geführt. So hat zwischen 2009 und 2015 die Hälfte der Ärzte Rumänien verlassen (POLITICO, 6.3.2017). Angesichts der erheblichen Einkommensunterschiede zwischen den armen und den reichen EU-Ländern (POLITICO, 27.9.2017) ist diese Abwanderung nicht aufzuhalten.
  • Die Abwanderung hat in einigen der neuen Mitgliedsstaaten – und dort besonders in armen Regionen – zu einem gravierenden Bevölkerungsverlust beigetragen. Dieser erreicht z.B. in Lettland, Litauen und Bulgarien fast 20% der Gesamtbevölkerung. Besonders junge und gut ausgebildete Menschen wandern aus (If hell is other people, Bulgaria is paradise – Bulgaria’s population is shrinking fast, and its people are reluctant to welcome immigrants; ECONOMIST, Jan 11, 2018)

Bulgarien und Rumänien: Korruption und Unabhängigkeit der Justiz

Die beiden im Jahr 2007 aufgenommenen EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien waren beim Beitritt nicht in der Lage, die Kopenhagen-Kriterien voll zu erfüllen. Besonders bei der Bekämpfung der Korruption und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz gab es erhebliche Mängel. Sie dennoch aufzunehmen war eine politische Entscheidung. Es ist ein historisch einmaliges Verfahren gewählt worden, um sie auch nach der Mitgliedschaft zu Reformen zu bewegen: Das „Kooperations- und Kontrollverfahren„. Die EU-Kommission legt nach entsprechender Überprüfung Berichte vor. Im aktuellen (2017) Bericht (link) werden zwar Fortschritte aber immer noch große Rückstände bescheinigt. Sanktionen – wie der Entzug von Fördermitteln – wären zwar möglich, werden aber nicht glaubwürdig angedroht.