Archiv der Kategorie: Freizügigkeit

Freie Wahl des Arbeitsplatzes in allen EU-Mitgliedsstaaten

Vorträge zu Europa

Anfragen per Email:  ulrich.brasche@online.de

Globale Finanzkrise / Global Financial Crisis

  • Germany’s macroeconomic interests & EU economic policies (pdf)
  • EU-crisis: Lessons for a changing EU? (pdf)
  • Schulden in Europa – wen kümmert´s? (pdf
  • The Great Financial Crisis – Ways out of debt (pdf)
  • Finanzkrise und (k)ein Ende – Grexit, Geldschwemme und andere seltsame Vorgänge (pdf)
  • Der Euro und die Krise – Raus aus den Schulden – und aus dem Euro?!? (pdf)
  • Wirtschaft, Wachstum und Beschäftigung in Europa – Der Euro, die Krise und Griechenland (pdf)
  • Morphing Monetary Policy in the € – Zone
  • Hat der Euro strukturelle Probleme (pdf)

Binnenmarkt / Single Market

  • EU Single Market – expectations, achievements (pdf)
  • Freizügigkeit im Europäischen Binnenmarkt – und wo bleibt mein Job? (pdf)
  • Europa 2020 – Ausbildung und Bildung (pdf)
  • Working in the EU – opportunities and challenges for young people (pdf)
  • Bau- und Stolpersteine für ein mobiles Europa – Eine Bahn ohne Grenzen (pdf)

Europäische Integration / European Integration

  • Perspektiven der EU – wie weiter? (pdf)
  • Die soziale Komponente der EU – Gedanken vor der Europawahl 2019 (pdf)
  • Europawahl 2019 – eine Schicksalswahl? (pdf)
  • Europawahl 2019 – lohnt es sich teilzunehmen? (pdf
  • EU – quo vadis? (pdf)
  • Spielverderber oder Partner? Die Rolle der Europäischen Kommission in der deutschen Wirtschaftspolitik (pdf)
  • Voran mit der EU – aber wohin? (pdf)
  • Wettbewerbsfähige und soziale EU – Erwartung und Wirklichkeit (pdf)
  • Wann werden wir Europäer? (pdf)
  • Osterweiterung der EU Was haben die Transformationsländer daraus gemacht? (pdf)
  • (Mehr) Macht für die EU (?) (deutsch)(englisch)
  • The EU after Brexit: Back to the Nation or “Ever Closer Union”€? (YOUTUBE, PART 1) (PART 2) (Part 3) (PART 4)

 

Soziale Spannungen durch die Entsendung von Arbeitnehmern

Die Regelungen zur Entsendung von Arbeitnehmern bieten Möglichkeiten, die nationalen sozialen Schutzvorschriften zu unterlaufen. Zahlreiche Fälle finden sind dazu dokumentiert (European Commission (2012v): Revision of the legislative framework on the posting of workers in the context of provision of services – impact assessment, in: Commission staff working document, SWD(2012) 63 final, 21.3.2012).

Ein markantes Beispiel: In deutschen Schlachthöfen sollen nur 3.-€/Std. an Arbeitnehmer aus Ost-Europa  bezahlt werden, so dass französische und belgische Betriebe ihre Arbeiten nach Deutschland verlagern (müssen) (Quellen: BBC News, 9. April 2013, Last updated at 14:54 GMT, „Belgium protests over German low pay in EU complaint“; „Schlachtbetriebe: Dumpingstandort Deutschland“, Tagesspiegel, 21.03.2013 10:22 Uhr (Link). Erst mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland kann dies unterbunden werden. Allerdings ist eine Umgehung durch Schein-Selbständigkeit schwer zu unterbinden.

Auch der Einsatz von LKW-Fahrern aus Ost-Europa in den „reichen“ Ländern der EU führt zu erheblichen sozialen Härten durch schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Entlohnung. Dem hat der EuGH im Juli 2020 deutlich Grenzen gesetzt (Urteil C‑610-18) (link).

Einen Überblick zur Entsendung von Arbeitnehmern – auch außerhalb der EU – findet sich in OECD, 2011b, International migration outlook: SOPEMI 2011, Paris, S. 54-61.

Diese Klagen sind Ausdruck der Tatsache, dass in der EU zwar Wettbewerb auf einem integrierten Markt für Güter existiert, auf dem Arbeitsmarkt dagegen die vereinbarte Freizügigkeit sich nicht entfalten kann, da ein Lohn-Wettbewerb nicht zulässig ist: Nationale Tariflöhne, Mindestlöhne und Schutzvorschriften sowie der Widerstand nationaler Interessenvertreter der Arbeitnehmer verhindern, dass die (potenziellen) Arbeitsmigranten aus Niedriglohn-Mitgliedsländern ihren Wettbewerbsvorteil – die Bereitschaft für weniger Lohn zu arbeiten –  ausspielen können. Allerdings kann die Arbeitskraft nicht ohne erhebliche soziale Härten und möglicherweise soziale Unruhen einem ungeschützten Wettbewerb ausgesetzt werden.

Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien: Massiv und in die Sozialhilfe?

Bei den Verhandlungen über die Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Staaten (MOEL) wurden auch Ängste in den Bevölkerungen der EU-15 berücksichtigt: Eine große Zahl von potenziellen Arbeitsmigranten wurde als Konkurrenten auf den Märkten befürchtet. Daher wurde die Freizügigkeit für sieben Jahre nach der Mitgliedschaft (1. Mai 2004) beschränkt. Diese Übergangsfrist für die Mitglieder Bulgarien und Rumänien (Beitritt 2007) lief im Jahr 2014 aus: Seitdem dürfen sich alle zur Arbeitssuche frei in der EU-27 bewegen („Freizügigkeit für Arbeitskräfte“). Bisher gingen sie hauptsächlich nach Italien, Spanien, Griechenland, Deutschland und Österreich. Nach Zahlen des Economist vom 4.1.2014 („EU Migration: The gates are open“) verteilten sie sich Arbeitskräfte aus Rumänien bisher wie folgt:

„Of Romania’s 7m strong active labour force, around 1.1m have a secure job in the state sector, which they will hesitate to give up. Some 3m have already left in the wake of Romania joining the EU in 2007: about 1m went to Italy, another million to Spain, half a million to France, up to 400,000 to Germany and 120,000 to Britain. They worked in a “self-employed” capacity (40% of the workforce building London’s Olympic Stadium were self-employed Romanians) or as seasonal or low-skill workers.“

Zwischen der EU-Kommission und einzenen Mitgliedsstaaten scheint es darüber Konflikte zu geben, wie der EUOBSERVER (2013) berichtet („EU to extend welfare rights, despite UK warning“). Der britische Premierminister Cameron drohte in der Presse mit einer Begrenzung von Zuzug, Aufenthalt und Bezug sozialer Leistungen für EU-Bürger – er zielte damit auf die volle Freizügigkeit für Bürger aus Rumänien und Bulgarien ab 1.1.2014. Eine solche Begrenzung wäre jedoch nicht mit dem EU-Recht vereinbar (Guild, E. (2013), Cameron’s Proposals to Limit EU Citizens’ Access to the UK: Lawful or not, under EU rules?, CEPS Commentaries).

Die zuständige Kommissarin will sogar die nur schwach ausgeprägte inner-EU Arbeitsmobilität durch die Verlängerung des Arbeitslosengeld-Bezugs im Ausland fördern. Es wird von ein Einigen befürchtet, dass die Menschen aus Bulgarien und Rumänien anreisen, um die (großzügigen) Sozialleistungen zu erlangen – dies würde die Leistungsfähigkeit der zuständigen Kommunen in Deutschland überfordern. Allerdings ist ein Bezug von Sozialleistungen erst nach einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Zielland möglich – auch fragt die Kommissarin bisher vergeblich nach Belegen für Probleme aus den Mitgliedsstaaten. Eine Studie der NIESR vom April 2013 weist nach, dass nur ein kleiner Teil der nach Großbritannien Zugewanderten Hilfen in Anspruch nimmt (Rolfe, H., Fic, T., Lalani, M., et al. (2013): Potential impacts on the UK of future migration from Bulgaria and Romania, NIESR, London). Vor einem Treffen der Innenminister der EU-Mitgliedsländer im Juni 2013 soll der deutsche Innenminister Friedrich die Abschiebung der EU-Bürger angekündigt haben, die „mißbräuchlich“ Sozialhilfe beantragen. Damit bezog er sich auf Personen, die nach der Einreise ein Gewerbe anmelden und dann nach kurzer Zeit mit dem Verweis auf mangelnde Erträge berechtigt sind, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen (Rausschmiss ohne Federlesen). In einem Report für die Bertelsmann Stiftung (2013) zeigt Brücker, dass die aktuell nach Deutschland Zuwandernden deutlich höhere Qualifikationen haben, als die Einwohner mit Migrationshintergrund. Außerdem dürften diese „neuen“ Migranten nach seiner Berechnung mehr in die Sozialsysteme einzahlen, als sie erhalten. Außerdem helfen sie, die bestehende Lücke im Arbeitskräftepotenzial zu schließen.

Entgegen der populär-populistischen Diskussion in Großbritannien sind wohl mehr Briten in die EU ausgewandert, als anders herum („Two million British people emigrated to EU, figures show. British figures indicate that just as many UK citizens live in the EU as vice-versa, despite popular perceptions“, EUObserver, 10.02.14 @ 09:23, by Andrew Rettman, BRUSSELS). Hierbei handelt es sich um eine große Anzahl von Rentnern, die ihren Lebensabend „im Süden“ verbringen und dort häufig nach einiger Zeit krank und/oder pflegebedürftig werden; wenn diese Kosten nicht mehr aus der Altersversorgung,  Versicherungen oder dem Vermögen getragen werden können, muss das Gastland dafür aufkommen. So kann es durchaus einen Transfer von Sozialleistungen geben – wenn auch in die der Diskussion entgegengesetzte Richtung.

Spannungen resultieren in den Zielregionen von Zuwanderung aus Armutsgebieten allerdings aus

  1. Konkurrenz um knappen, billigen Wohnraum, insbesondere in solchen Stadtteilen, in denen bereits sozial Schwache sich konzentrieren
  2. der Notwendigkeit, die mittellosen Menschen – auch jenseits rechtlicher Anspruchsgrundlagen – mit dem Notwendigsten zu versorgen und die Entstehung von Slum-Siedlungen, z.B. in städtischen Parks, zu unterbinden
  3. der Integration der Kinder in die lokalen Schulen, was angesichts der Sprachbarriere nur schwer gelingt und zusätzlichen Aufwand erfordert.

Armutsflüchtlinge kommen jedoch nicht wegen der EU-Vorschriften zur Freizügigkeit, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben – sie lassen sich dabei weder von Vorschriften noch von Lebensgefahr von der Migration abhalten. In einem Buch zeigen Guild, E., S. Carrera and K. Eisele (2013, Social Benefits and Migration: A Contested Relationship and Policy Challenge in the EU) die Regulierungen und bisherigen Befunde zu dem befürchteten „Sozialtourismus“. Sie stellen für Deutschland, die Niederlande und Großbritannien fest, dass die Zugewanderten aus anderen EU-Ländern nur einen kleinen Teil der Empfänger von Sozialleistungen ausmachen – der überwiegende Teil kommt aus Drittländern. Außerdem sind die Empfänger nicht junge, neu „in die Sozialsysteme eingewanderte“ Menschen, sondern überwiegend ältere Arbeitnehmer, die schon lange im entsprechenden Land leben und dort in finanzielle Not geraten sind. Ähnlich finden Giulietti, C. and J. Wahba (2012, Welfare Migration, IZA Discussion Paper No. 6450) keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Großzügigkeit von Sozialleistungen und der Zuwanderung aus anderen EU-Staaten.

Im November 2013 haben Dustmann und Frattini festgestellt, dass die Zuwanderer nach Großbritannien seit 1995 einen positiven Beitrag zum öffentlichen Haushalt erbracht haben – eine Belastung hat also per Saldo nicht stattgefunden.

Mit einem Urteil des nordrhein-westfälischen Landessozialgerichts allerdings wurde einer bulgarischen Einwanderer-Familie Hartz-IV-Leistungen zugesprochen (AZ: L19AS766/13 B ER; siehe Handelsblatt 23.98.13, S. 12: „Angst vor Europas Armen – Bürgern in Deutschland einen Anspruch auf Hartz IV zu.). Damit ist der in Deutschland bisher geltende Rechtsgrundsatz, dass Arbeitssuchende für sich selbst sorgen müssen, infrage gestellt.

Ein Gericht in Niedersachsen hat allerdings gegen einen solchen Anspruch entschieden („German conservatives stir up ‚welfare tourism‘ row“, EUObserver, 04.12.13 @ 08:52). Im November 2014 hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass eine Zuwanderung OHNE deutlichen Bezug zum Arbeitsmarkt nicht zum Bezug von Sozialleistungen führen muss (Rechtssache C 333/13 Elisabeta Dano, Florin Dano gegen Jobcenter Leipzig).

Im September 2015 hat der EuGH in einem weiteren Verfahren entschieden, dass der Grundsatz gilt, nach dem während der ersten Phase der Arbeitssuche keine Sozialleistungen beansprucht werden dürfen. Eine „Einwanderung in Hartz IV“ er dem Vorwand der Arbeitnehmer-Freizügigkeit ist damit nicht möglich (Urteil C-67/14 vom 15. September 2015. Jobcenter Berlin Neukölln gegen Nazifa Alimanovic und andere).

Diese Urteile sollte auch die britische Debatte entschärfen, zumal die Zuwanderung nach Großbritannien für gering Qualifizierte nicht wegen des Bezugs von Sozialleistungen attraktiv ist, sondern weil auch Arbeitsmigranten Lohnaufstockungen als staatliche Leistung beziehen dürfen.

In seinem „Zuwanderungsmonitor Bulgarien Rumänien“ (April 2014) stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fest, dass Menschen aus diesen beiden Mitgliedsländern mit dem Ende der Übergangsfrist verstärkt reguläre Arbeit in Deutschland aufnehmen. Ein Jahr später wird festgestellt, dass diese Gruppe zwar eine hohe Erwerbsbeteiligung, gleichzeitig aber auch eine hohe Quote von Hartz-IV-Beziehern hat (Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien September 2015). Dies deutet darauf hin, dass dieser Personenkreis zu Löhnen beschäftigt wird, die ein „Aufstocken“ erforderlich machen.

Die Bundesregierung hat die populistische Diskussion, die aus den Reihen der Koalition heraus befeuert wurde („wer betrügt, fliegt“) aufgegriffen und eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Fakten ermitteln und Vorschläge unterbreiten sollte. Der Abschlussbericht (August 2014) „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ enthält die folgenden Vorschläge für gesetzlich fixierte Maßnahmen:

  • „EU-Ausländer, die bei der Beschaffung ihrer Aufenthaltsgenehmigung falsche Daten angeben, sollen nicht w ie bisher nur ausgewiesen werden. Ihnen drohen befristete Wiedereinreisesperren für bis zu fünf Jahren.
  • Die Arbeitssuche soll auf sechs Monate befristet werden. Wenn nach Ablauf dieser Frist nicht nachgewiesen werden kann, dass es berechtigte Hoffnung auf eine Beschäftigung gibt, soll die Aufenthaltsgenehmigung erlöschen.
  • Kindergeld soll künftig nur bei Vorlage einer Steueridentifikationsnummer ausgezahlt werden, um Missbrauch und Doppeltbezüge zu vermeiden.“

Es ist allerdings zu bezweifeln, dass dieses Gesetz mit dem EU-Recht kompatibel ist; es könnte also vom EuGH noch kassiert werden. Im März 2015 hat der Generalanwalt beim EuGH allerding die Auffassung vertreten (Case C-299/14), dass EU-Bürger für die ersten drei Monate der Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedsland (hier: Deutschland) von dem Bezug von Sozialleistungen ausgeschlossen werden dürfen.

Vermutlich auch im Blick auf populärer Ablehnung der Zuwanderung, die sich in der Europa-Wahl 2014 niederschlagen könnte, hat die Kommission im November 2013 in zwei Quellen nochmals die rechtliche Basis für die Freizügigkeit von Bürgern und Arbeitskräften sowie für den Bezug von Leistungen zusammengefasst. Dabei sind auch Daten zum Bezug von Sozialleistungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten enthalten: