Archiv der Kategorie: Binnenmarkt

Vorträge zu Europa

Anfragen per Email:  ulrich.brasche@online.de

Globale Finanzkrise / Global Financial Crisis

  • Germany’s macroeconomic interests & EU economic policies (pdf)
  • EU-crisis: Lessons for a changing EU? (pdf)
  • Schulden in Europa – wen kümmert´s? (pdf
  • The Great Financial Crisis – Ways out of debt (pdf)
  • Finanzkrise und (k)ein Ende – Grexit, Geldschwemme und andere seltsame Vorgänge (pdf)
  • Der Euro und die Krise – Raus aus den Schulden – und aus dem Euro?!? (pdf)
  • Wirtschaft, Wachstum und Beschäftigung in Europa – Der Euro, die Krise und Griechenland (pdf)
  • Morphing Monetary Policy in the € – Zone
  • Hat der Euro strukturelle Probleme (pdf)

Binnenmarkt / Single Market

  • EU Single Market – expectations, achievements (pdf)
  • Freizügigkeit im Europäischen Binnenmarkt – und wo bleibt mein Job? (pdf)
  • Europa 2020 – Ausbildung und Bildung (pdf)
  • Working in the EU – opportunities and challenges for young people (pdf)
  • Bau- und Stolpersteine für ein mobiles Europa – Eine Bahn ohne Grenzen (pdf)

Europäische Integration / European Integration

  • Perspektiven der EU – wie weiter? (pdf)
  • Die soziale Komponente der EU – Gedanken vor der Europawahl 2019 (pdf)
  • Europawahl 2019 – eine Schicksalswahl? (pdf)
  • Europawahl 2019 – lohnt es sich teilzunehmen? (pdf
  • EU – quo vadis? (pdf)
  • Spielverderber oder Partner? Die Rolle der Europäischen Kommission in der deutschen Wirtschaftspolitik (pdf)
  • Voran mit der EU – aber wohin? (pdf)
  • Wettbewerbsfähige und soziale EU – Erwartung und Wirklichkeit (pdf)
  • Wann werden wir Europäer? (pdf)
  • Osterweiterung der EU Was haben die Transformationsländer daraus gemacht? (pdf)
  • (Mehr) Macht für die EU (?) (deutsch)(englisch)
  • The EU after Brexit: Back to the Nation or “Ever Closer Union”€? (YOUTUBE, PART 1) (PART 2) (Part 3) (PART 4)

 

Mehr aus dem Binnenmarkt herausholen

Die Potenziale des Binnenmarkts werden noch nicht voll genutzt. Die folgenden Vorschläge gibt es dazu:

  • We recommend a two-pillar strategy:
    • for sectors with large externalities and/or economies of scale (such as energy or telecoms), regulations should be harmonised and at least close coordination between regulators should be achieved;
    • for other services sectors, the efficiency of individual regulations on a cost-benefit basis with respect to their objective should be assessed, with systematic benchmarking.
  • We also recommend pursuing a credible environmental policy agenda on a destination
    basis (impacting both EU and non-EU firms) rather than on an origin basis (which is the case
    today), through a combination of ambitious technical standards, a reference path for the carbon
    price and revenue-neutral tax instruments. This would stimulate long-term investment in
    the energy transition without overly hurting EU firms’ competitiveness.
  • To further stimulate investment, especially in innovative sectors, we suggest moving
    ahead decisively with the capital markets union agenda. In parallel, the use of EU funds
    should be reviewed taking into account the objectives of economic convergence, spillovers
    between member states and solidarity.
  • EU national governments are responsible for welfare-related redistribution. However
    EU policies can help by empowering member countries to address the possible effects of EU
    integration, or by developing EU-wide instruments to limit its impact on possible losers.
  • We argue that tax and social security avoidance or fraud need to be combatted with modern tools,
    eg a single electronic interface to monitor the payment of social charges of posted workers in
    their home countries. In order to fight corporate tax avoidance and improve tax fairness, the
    interest and royalties directive could be modified if the project of a common, consolidated
    corporate tax base (CCCTB) proves too difficult to agree.
  • Finally, we recommend making social security systems more neutral with respect to
    intra-EU migration, eg by introducing the full continuation of home-country unemployment
    rights for migrant jobseekers, with closer cooperation between national employment services,
    and by centralising information on pension entitlements on a single platform.

Quelle: Aussilloux, V.; Bénassy-Quéré, A., et al. 2017. Making the best of the European single market. BRUEGEL policy contribution, (3) (link)

Lohn-Konkurrenz auf dem Rücken der Schwachen

Freier Wettbewerb erzeugt Lohndruck

Der Binnenmarkt stellt den ungehinderten grenzüberschreitenden Wettbewerb auch bei Dienstleistungen her. Dies soll zu einem optimalen Marktergebnis führen: Gute Qualität und große Auswahl bei geringen Preisen. Was nicht berücksichtigt wird, ist der Druck auf die (Lohn-) Kosten – und damit auf die schwachen Arbeitnehmer, die sich nicht wehren können. Auch die wenigen EU-Schutznormen bleiben wirkungslos, da sie von den Mitgliedsstaaten nicht durchgesetzt werden.

Dies soll am Beispiel der LKW-Fahrer gezeigt werden. Diese werden als sogenannte „entsandte Arbeitnehmer“ auf der Basis ihrer „armen“ Heimatländer zur Arbeit in „reichen“ EU-Ländern eingesetzt.

LKW-Fahrer aus Ost-Europa arbeiten unter erbärmlichen Bedingungen

Speditionen können aus jedem Land der EU in einem andren Mitgliedsstaat Dienste anbieten. Der Wettbewerb ist scharf und der Kostendruck entsprechend hoch. Die Personalkosten, d.h. die Kosten für die LKW-Fahrer, sind in einigen Ländern Ost-Europas deutlich niedriger als in den „reichen“ Mitgliedsstaaten: Bulgarien 16.000.-/Jahr, Belgien 56.000.-/Jahr. Außerdem sind Urlaub und Rentenleistungen sehr unterschiedlich (EUObserver).

Zu den Personalkosten zählen auch die Spesen für Übernachtung sowie Urlaubstage. In den Medien wird darüber berichtet, dass Fahrer aus Ost-Europa monatelang in ihren LKW leben und weder über sanitäre Anlagen noch über Küche oder Schlafraum verfügen. Von ihrem Lohn oder den Spesen können sie sich kein Hotel leisten (BBC: Ikea drivers living in trucks for months, BBC).

Diese Praxis verstößt zwar gegen EU-Schutzrechte für Arbeitnehmer, kann aber mangels ausreichender Überwachung nicht unterbunden werden; dies stellt einen erheblichen Kostenvorteil für Speditionen aus Ost-Europa dar, die damit Druck auf Löhne, Arbeitsbedingungen und letztlich Arbeitsplätze in den „reichen“ Ländern ausüben. Die Transportunternehmen in den „reichen“ Ländern können sich nur noch auf dem heimischen Markt behaupten, während diejenigen aus Ost-Europa mittlerweile die internationalen Transporte dominieren (EUObserver).

Sogar die Vorschrift Anwendung des Mindestlohns des Landes, in dem die Fahrer tätig sind, wird von der EU-Kommission als Behinderung des freien Wettbewerbs bezeichnet – sie geht in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, Frankreich und Österreich vor (Brüssel, 16. Juni 2016, Pressemitteilung IP-16-2101).

Dies ist ein Beispiel dafür, dass freier, grenzüberschreitender Wettbewerb im Binnenmarkt mit dem Schutzbedürfnis von Arbeitnehmern kollidieren kann. Eine Abwägung zwischen beiden Prinzipien muss gefunden werden.

Die Ost-Europäer sehen die niedrigen Löhne als ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil und lehnen die Angleichung der Sozialstandards als Protektionismus zugunsten der wohlhabenden Länder im Westen ab (EUObserver).

Die EU-Kommission versucht die verschiedenen Interessen in einer neuen Regulierung zu berücksichtigen (POLITICO) (EU-Kommission). Dazu hat sie im Dezember 2017 einen Vorschlag zur Flexiblisierung der Regelungen für LKW-Fahrer gemacht in dem sie sowohl die sozialen Interessen der Arbeitnehmer als auch die Interessen der Unternehmen ausgewogen berücksichtigen will (EU-Kommission will Ruhezeiten von LKW-Fahrern flexibilisieren). Es bleibt abzuwarten, ob die Vertreter der Mitgliedsstaaten im Rat dem zustimmen.

Gegen großen Widerstand der Industrie: Verbesserungen für Arbeitnehmer

Im Juli 2020 hat das Europäische Parlament den Gesetzesänderungen zugestimmt, die der Rat bereits beschlossen hatte (link) (link). Damit werden die Möglichkeiten der Spediteure, die geringen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten für Transportleistungen in den „reicheren“ Staaten auszunutzen. Die Arbeitskräfte aus den „ärmeren“ Ländern werden dadurch zwar bessergestellt, verlieren aber möglicherweise ihren entscheidenden Wettbewerbsvorteil: Die Bereitschaft, für wenig Lohn und unter schlechten Bedingungen zu arbeiten. Daher waren auch die Vertreter der „ärmeren“ Länder im Rat gegen diese Verbesserungen.

Der EuGH stopft ein weiteres Schlupfloch

Eine Umgehung des Schutzes von Arbeitnehmern iat seit Juli 2020 vom EuGH (Urteil C‑610-18) für illegal erklärt worden: Logistikunternehmen haben in EU-Ländern mit niedrigen Löhnen und geringem solzialen Schutz pro-forma LKW-Fahrer eingestellt und diese dann aber nicht im Land des Arbeitgebers beschäftigt, sondern in“reicheren“ Mitgliedsstaaten arbeiten lassen. So konnten Lohnvereinbarungen und soziale Sicherung am tatsächlichen Beschäftigungsort unterlaufen werden. Diese Praxis wurde vom EuGH nun weniger attraktiv gemacht: Er verfügte, dass das Unternehmen am tatsächlichen Arbeitsort auch der Arbeitgeber sei und dass daher auch die dortigen Normen (Löhne, Schutz) gelten müssen.

E-commerce ist nicht grenzenlos

Der Handel im Internet (e-commerce) sollte eigentlich unabhängig von Landesgrenzen möglich sein. Es ist überraschend festzustellen, dass dies nicht möglich ist: Viele Kunden werden von den ausländischen e-shops auf Anbieter im eigenen Land zurück verwiesen. Die EU-Kommission hat sich vorgenommen, ab 2015 einen grenzenlosen „Digitalen Binnenmarkt“ einzurichten. In der Vorbereitung hat sie zahlreiche Papiere veröffentlicht, in denen sowohl das Problem beschrieben wird, als auch die geplanten Maßnahmen erläutert werden:

Im Eurobarometer wurde im Jahr 2014 ein umfangreiche Befragung von Anbietern im e-commerce durchgeführt, die Einblicke in den Markt sowie die Hemmnisse gibt (TNS Opinion & Social (2015). „Companies engaged in online activities.“ Flash Eurobarometer(413))

Soziale Spannungen durch die Entsendung von Arbeitnehmern

Die Regelungen zur Entsendung von Arbeitnehmern bieten Möglichkeiten, die nationalen sozialen Schutzvorschriften zu unterlaufen. Zahlreiche Fälle finden sind dazu dokumentiert (European Commission (2012v): Revision of the legislative framework on the posting of workers in the context of provision of services – impact assessment, in: Commission staff working document, SWD(2012) 63 final, 21.3.2012).

Ein markantes Beispiel: In deutschen Schlachthöfen sollen nur 3.-€/Std. an Arbeitnehmer aus Ost-Europa  bezahlt werden, so dass französische und belgische Betriebe ihre Arbeiten nach Deutschland verlagern (müssen) (Quellen: BBC News, 9. April 2013, Last updated at 14:54 GMT, „Belgium protests over German low pay in EU complaint“; „Schlachtbetriebe: Dumpingstandort Deutschland“, Tagesspiegel, 21.03.2013 10:22 Uhr (Link). Erst mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland kann dies unterbunden werden. Allerdings ist eine Umgehung durch Schein-Selbständigkeit schwer zu unterbinden.

Auch der Einsatz von LKW-Fahrern aus Ost-Europa in den „reichen“ Ländern der EU führt zu erheblichen sozialen Härten durch schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Entlohnung. Dem hat der EuGH im Juli 2020 deutlich Grenzen gesetzt (Urteil C‑610-18) (link).

Einen Überblick zur Entsendung von Arbeitnehmern – auch außerhalb der EU – findet sich in OECD, 2011b, International migration outlook: SOPEMI 2011, Paris, S. 54-61.

Diese Klagen sind Ausdruck der Tatsache, dass in der EU zwar Wettbewerb auf einem integrierten Markt für Güter existiert, auf dem Arbeitsmarkt dagegen die vereinbarte Freizügigkeit sich nicht entfalten kann, da ein Lohn-Wettbewerb nicht zulässig ist: Nationale Tariflöhne, Mindestlöhne und Schutzvorschriften sowie der Widerstand nationaler Interessenvertreter der Arbeitnehmer verhindern, dass die (potenziellen) Arbeitsmigranten aus Niedriglohn-Mitgliedsländern ihren Wettbewerbsvorteil – die Bereitschaft für weniger Lohn zu arbeiten –  ausspielen können. Allerdings kann die Arbeitskraft nicht ohne erhebliche soziale Härten und möglicherweise soziale Unruhen einem ungeschützten Wettbewerb ausgesetzt werden.

Krumme Gurken und Öl-Kännchen

In der Wahrnehmung vieler Bürger kommen unsinnige und überflüssige Regulierungen „aus Brüssel“ – der Ruf der europäischen Integration leidet darunter. Allerdings wird die Schuld der EU auch zu Unrecht zugewiesen, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Die Gurken und das Ölkännchen

Ein aktuelles Beispiel ist der Versuch der Kommission, die Kännchen für Oliven-Öl von den Tischen der Restaurants zu verbannen. Angeblich würde der gutgläubige Verbraucher durch das Nachfüllen von minderwertigem Öl übervorteilt. Die Initiative dazu soll von den Produzentenländern (Griechenland, Spanien, Portugal) ausgegangen sein, die sich einen steigenden Absatz kleiner und teurerer Orginalverpackungen versprachen. Nachdem sich die Kommission damit in den Augen der öffentlichen Meinung lächerlich zu machen drohte, zog sie den Vorschlag zurück (EU retreats from olive oil ban after wave of ridicule, EUObserver, 23.05.13 @ 17:42). Das hinderte die Lobby in Spanien nicht daran, für ein nationales Gesetz zu sorgen, das künftig Einweg-Kännchen vorschreibt („Wirtschaft: Spanien verbietet Ölkännchen, Olivenöl gibt es nur noch in Einwegflaschen – auf Druck der Industrie“, Tagesspiegel, 4.1.2014)

Dies reiht sich ein in frühere Beispiele, mit denen auf vermeintlich über-regulierende Bürokraten eingeschlagen wurde, wie zwei Beispiele zeigen:

Sind Kerzen die neuen Gurken?

Als neues Beispiel für Regulierungswut der Kommission wurde im Dezember 2015 der Richtlinienentwurf für die Vergrößerung der Sicherheit beim Gebrauch von Kerzen in den Medien vorgestellt. EU_Kerzen_regulierung_Dez15

Allerdings ist auch hier nicht auszuschließen, dass es die Industrie selbst ist, die diese Regulierung wünscht, um sich vor Konkurrenz zu schützen (Die Welt, 5.12.2015, „Warum die EU jetzt auch deutsche Kerzen reguliert“).

Weitere Gerüchte über geplante Regulierungen sind ebenfalls falsch:

  • Die EU will NICHT den Bayern den Bierkrug verbieten
  • Die EU hat NICHT vor Buntstifte zu verbieten

Weitere Quellen zu Vorurteilen über die EU

Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien: Massiv und in die Sozialhilfe?

Bei den Verhandlungen über die Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Staaten (MOEL) wurden auch Ängste in den Bevölkerungen der EU-15 berücksichtigt: Eine große Zahl von potenziellen Arbeitsmigranten wurde als Konkurrenten auf den Märkten befürchtet. Daher wurde die Freizügigkeit für sieben Jahre nach der Mitgliedschaft (1. Mai 2004) beschränkt. Diese Übergangsfrist für die Mitglieder Bulgarien und Rumänien (Beitritt 2007) lief im Jahr 2014 aus: Seitdem dürfen sich alle zur Arbeitssuche frei in der EU-27 bewegen („Freizügigkeit für Arbeitskräfte“). Bisher gingen sie hauptsächlich nach Italien, Spanien, Griechenland, Deutschland und Österreich. Nach Zahlen des Economist vom 4.1.2014 („EU Migration: The gates are open“) verteilten sie sich Arbeitskräfte aus Rumänien bisher wie folgt:

„Of Romania’s 7m strong active labour force, around 1.1m have a secure job in the state sector, which they will hesitate to give up. Some 3m have already left in the wake of Romania joining the EU in 2007: about 1m went to Italy, another million to Spain, half a million to France, up to 400,000 to Germany and 120,000 to Britain. They worked in a “self-employed” capacity (40% of the workforce building London’s Olympic Stadium were self-employed Romanians) or as seasonal or low-skill workers.“

Zwischen der EU-Kommission und einzenen Mitgliedsstaaten scheint es darüber Konflikte zu geben, wie der EUOBSERVER (2013) berichtet („EU to extend welfare rights, despite UK warning“). Der britische Premierminister Cameron drohte in der Presse mit einer Begrenzung von Zuzug, Aufenthalt und Bezug sozialer Leistungen für EU-Bürger – er zielte damit auf die volle Freizügigkeit für Bürger aus Rumänien und Bulgarien ab 1.1.2014. Eine solche Begrenzung wäre jedoch nicht mit dem EU-Recht vereinbar (Guild, E. (2013), Cameron’s Proposals to Limit EU Citizens’ Access to the UK: Lawful or not, under EU rules?, CEPS Commentaries).

Die zuständige Kommissarin will sogar die nur schwach ausgeprägte inner-EU Arbeitsmobilität durch die Verlängerung des Arbeitslosengeld-Bezugs im Ausland fördern. Es wird von ein Einigen befürchtet, dass die Menschen aus Bulgarien und Rumänien anreisen, um die (großzügigen) Sozialleistungen zu erlangen – dies würde die Leistungsfähigkeit der zuständigen Kommunen in Deutschland überfordern. Allerdings ist ein Bezug von Sozialleistungen erst nach einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Zielland möglich – auch fragt die Kommissarin bisher vergeblich nach Belegen für Probleme aus den Mitgliedsstaaten. Eine Studie der NIESR vom April 2013 weist nach, dass nur ein kleiner Teil der nach Großbritannien Zugewanderten Hilfen in Anspruch nimmt (Rolfe, H., Fic, T., Lalani, M., et al. (2013): Potential impacts on the UK of future migration from Bulgaria and Romania, NIESR, London). Vor einem Treffen der Innenminister der EU-Mitgliedsländer im Juni 2013 soll der deutsche Innenminister Friedrich die Abschiebung der EU-Bürger angekündigt haben, die „mißbräuchlich“ Sozialhilfe beantragen. Damit bezog er sich auf Personen, die nach der Einreise ein Gewerbe anmelden und dann nach kurzer Zeit mit dem Verweis auf mangelnde Erträge berechtigt sind, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen (Rausschmiss ohne Federlesen). In einem Report für die Bertelsmann Stiftung (2013) zeigt Brücker, dass die aktuell nach Deutschland Zuwandernden deutlich höhere Qualifikationen haben, als die Einwohner mit Migrationshintergrund. Außerdem dürften diese „neuen“ Migranten nach seiner Berechnung mehr in die Sozialsysteme einzahlen, als sie erhalten. Außerdem helfen sie, die bestehende Lücke im Arbeitskräftepotenzial zu schließen.

Entgegen der populär-populistischen Diskussion in Großbritannien sind wohl mehr Briten in die EU ausgewandert, als anders herum („Two million British people emigrated to EU, figures show. British figures indicate that just as many UK citizens live in the EU as vice-versa, despite popular perceptions“, EUObserver, 10.02.14 @ 09:23, by Andrew Rettman, BRUSSELS). Hierbei handelt es sich um eine große Anzahl von Rentnern, die ihren Lebensabend „im Süden“ verbringen und dort häufig nach einiger Zeit krank und/oder pflegebedürftig werden; wenn diese Kosten nicht mehr aus der Altersversorgung,  Versicherungen oder dem Vermögen getragen werden können, muss das Gastland dafür aufkommen. So kann es durchaus einen Transfer von Sozialleistungen geben – wenn auch in die der Diskussion entgegengesetzte Richtung.

Spannungen resultieren in den Zielregionen von Zuwanderung aus Armutsgebieten allerdings aus

  1. Konkurrenz um knappen, billigen Wohnraum, insbesondere in solchen Stadtteilen, in denen bereits sozial Schwache sich konzentrieren
  2. der Notwendigkeit, die mittellosen Menschen – auch jenseits rechtlicher Anspruchsgrundlagen – mit dem Notwendigsten zu versorgen und die Entstehung von Slum-Siedlungen, z.B. in städtischen Parks, zu unterbinden
  3. der Integration der Kinder in die lokalen Schulen, was angesichts der Sprachbarriere nur schwer gelingt und zusätzlichen Aufwand erfordert.

Armutsflüchtlinge kommen jedoch nicht wegen der EU-Vorschriften zur Freizügigkeit, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben – sie lassen sich dabei weder von Vorschriften noch von Lebensgefahr von der Migration abhalten. In einem Buch zeigen Guild, E., S. Carrera and K. Eisele (2013, Social Benefits and Migration: A Contested Relationship and Policy Challenge in the EU) die Regulierungen und bisherigen Befunde zu dem befürchteten „Sozialtourismus“. Sie stellen für Deutschland, die Niederlande und Großbritannien fest, dass die Zugewanderten aus anderen EU-Ländern nur einen kleinen Teil der Empfänger von Sozialleistungen ausmachen – der überwiegende Teil kommt aus Drittländern. Außerdem sind die Empfänger nicht junge, neu „in die Sozialsysteme eingewanderte“ Menschen, sondern überwiegend ältere Arbeitnehmer, die schon lange im entsprechenden Land leben und dort in finanzielle Not geraten sind. Ähnlich finden Giulietti, C. and J. Wahba (2012, Welfare Migration, IZA Discussion Paper No. 6450) keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Großzügigkeit von Sozialleistungen und der Zuwanderung aus anderen EU-Staaten.

Im November 2013 haben Dustmann und Frattini festgestellt, dass die Zuwanderer nach Großbritannien seit 1995 einen positiven Beitrag zum öffentlichen Haushalt erbracht haben – eine Belastung hat also per Saldo nicht stattgefunden.

Mit einem Urteil des nordrhein-westfälischen Landessozialgerichts allerdings wurde einer bulgarischen Einwanderer-Familie Hartz-IV-Leistungen zugesprochen (AZ: L19AS766/13 B ER; siehe Handelsblatt 23.98.13, S. 12: „Angst vor Europas Armen – Bürgern in Deutschland einen Anspruch auf Hartz IV zu.). Damit ist der in Deutschland bisher geltende Rechtsgrundsatz, dass Arbeitssuchende für sich selbst sorgen müssen, infrage gestellt.

Ein Gericht in Niedersachsen hat allerdings gegen einen solchen Anspruch entschieden („German conservatives stir up ‚welfare tourism‘ row“, EUObserver, 04.12.13 @ 08:52). Im November 2014 hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass eine Zuwanderung OHNE deutlichen Bezug zum Arbeitsmarkt nicht zum Bezug von Sozialleistungen führen muss (Rechtssache C 333/13 Elisabeta Dano, Florin Dano gegen Jobcenter Leipzig).

Im September 2015 hat der EuGH in einem weiteren Verfahren entschieden, dass der Grundsatz gilt, nach dem während der ersten Phase der Arbeitssuche keine Sozialleistungen beansprucht werden dürfen. Eine „Einwanderung in Hartz IV“ er dem Vorwand der Arbeitnehmer-Freizügigkeit ist damit nicht möglich (Urteil C-67/14 vom 15. September 2015. Jobcenter Berlin Neukölln gegen Nazifa Alimanovic und andere).

Diese Urteile sollte auch die britische Debatte entschärfen, zumal die Zuwanderung nach Großbritannien für gering Qualifizierte nicht wegen des Bezugs von Sozialleistungen attraktiv ist, sondern weil auch Arbeitsmigranten Lohnaufstockungen als staatliche Leistung beziehen dürfen.

In seinem „Zuwanderungsmonitor Bulgarien Rumänien“ (April 2014) stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fest, dass Menschen aus diesen beiden Mitgliedsländern mit dem Ende der Übergangsfrist verstärkt reguläre Arbeit in Deutschland aufnehmen. Ein Jahr später wird festgestellt, dass diese Gruppe zwar eine hohe Erwerbsbeteiligung, gleichzeitig aber auch eine hohe Quote von Hartz-IV-Beziehern hat (Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien September 2015). Dies deutet darauf hin, dass dieser Personenkreis zu Löhnen beschäftigt wird, die ein „Aufstocken“ erforderlich machen.

Die Bundesregierung hat die populistische Diskussion, die aus den Reihen der Koalition heraus befeuert wurde („wer betrügt, fliegt“) aufgegriffen und eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Fakten ermitteln und Vorschläge unterbreiten sollte. Der Abschlussbericht (August 2014) „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ enthält die folgenden Vorschläge für gesetzlich fixierte Maßnahmen:

  • „EU-Ausländer, die bei der Beschaffung ihrer Aufenthaltsgenehmigung falsche Daten angeben, sollen nicht w ie bisher nur ausgewiesen werden. Ihnen drohen befristete Wiedereinreisesperren für bis zu fünf Jahren.
  • Die Arbeitssuche soll auf sechs Monate befristet werden. Wenn nach Ablauf dieser Frist nicht nachgewiesen werden kann, dass es berechtigte Hoffnung auf eine Beschäftigung gibt, soll die Aufenthaltsgenehmigung erlöschen.
  • Kindergeld soll künftig nur bei Vorlage einer Steueridentifikationsnummer ausgezahlt werden, um Missbrauch und Doppeltbezüge zu vermeiden.“

Es ist allerdings zu bezweifeln, dass dieses Gesetz mit dem EU-Recht kompatibel ist; es könnte also vom EuGH noch kassiert werden. Im März 2015 hat der Generalanwalt beim EuGH allerding die Auffassung vertreten (Case C-299/14), dass EU-Bürger für die ersten drei Monate der Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedsland (hier: Deutschland) von dem Bezug von Sozialleistungen ausgeschlossen werden dürfen.

Vermutlich auch im Blick auf populärer Ablehnung der Zuwanderung, die sich in der Europa-Wahl 2014 niederschlagen könnte, hat die Kommission im November 2013 in zwei Quellen nochmals die rechtliche Basis für die Freizügigkeit von Bürgern und Arbeitskräften sowie für den Bezug von Leistungen zusammengefasst. Dabei sind auch Daten zum Bezug von Sozialleistungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten enthalten: